1. Teil: Intro - 1. Kapitel: Hineinfallen
1. Kapitel Hineinfallen



Fallen! Fallen!
Wohin du auch blickst, du siehst es kaum,
wohin du auch gehst, du erreichst es kaum,
was du auch spürst, du erträgst es kaum.
wer du auch warst, du erfährst es kaum,
wer du auch bist, du wirst es nie wissen!
Frank Bellman

Wenn ich nach so vielen Jahren wieder an die Wiestaler Zeit zurückdenke, ist es, als würde ich in einen tiefen Abgrund fallen. Ich sehe nichts, erahne jedoch die unendliche Tiefe. Und je länger ich falle, desto mehr bin ich in der Lage zu sehen und zu spüren. Der eiskalte Luftstrom wird zum Strom der Erinnerung und lässt mein Gehirn beinahe erbeben.
---Na los! Spuck´s aus!
Alles spult sich vor meinen Augen ab.
---Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist...
Zick zack – in jede beliebige Richtung.
---Bravissimo!
Es gibt keine Ordnung, keine Regeln und keine Geschichte. Nur Fragmente.
CHOBRAU. Ich falle tiefer.
---Wer will uns scheiden...?
Noch tiefer.
---Ah, die Vögel!
Tiefer...
---wertloser als Leichen...
tiefer, noch tiefer.
---Auf deinen Fuck, Frank!
Es ist, als ob die Zukunft keine natürlichen oder vermeintlich objektiven Erkenntnisse mehr bereit hält. Film noir typisch.
---Lichtschluß!
Entweder zu hell oder zu dunkel. Das Licht leuchtet nicht aus, es blendet. Nur Dunkelheit und Gegenlicht. Deshalb falle ich. In Richtung Vergangenheit.
Nicht
---Zurück in die Zukunft.
Es gibt nicht nur gute oder nur schlechte Erinnerungen, mehr einen Mischmasch von lose aneinander geknüpften Worten, kleine Puzzle Teilchen verschiedenster Eindrücke und Begebenheiten. Teils mit schmerzhafter Deutlichkeit, teils verschwommen wie im Fiebertraum.
Räume aller Art, Orte, Landschaften, Ecken und kleinste Fleckchen Erde werden plastisch und sind zum greifen nah. Das Fallen wird zum rauschhaften Bewusstseinszustand. Menschen bleiben zumeist abstrakte Begriffe, sie sind kaum fassbar, was bleibt sind surreale Bilder und unendlich viele, aus ihnen zusammenhanglos hervorgehende Erlebnis-Fetzen, im Nebel der Erinnerung zunächst silhouettenhaft auftauchende Personen, die je näher sie kommen, einem in die Augen blicken, Menschen, die als bloser Hauch, schemenhaft, fast gespenstisch, ihr Gesicht zeigen.
Und schließlich der Aufprall.
---Jetzt ist es dunkel!
Bin ich angekommen?
Ich öffne die Augen, erblicke meine Umgebung, jedes einzelne Pixel eröffnet ein neues Universum.
---And now for...
Erneut schließe ich meine Augen und sehe etwas Undefinierbares.
---And now for something completely different!
Eine graue Masse, ein riesiger Brei an beinahe Vergessenem, unklar und undurchdringlich. Abstoßend und anregend zugleich.
Das Unterbewusstsein regt sich, scheint sich zu melden. Es überrascht mich, wie viele Schattenseiten, wie viel Abgründiges sich in mein Bewusstsein drängt. Gesprächstherapie mit mir selbst. Angst erzeugend und heilsam zugleich. Die Wahrheit akzeptieren.
---Und bewahre uns vor dem nassen Tod!
Ich erschrecke.
---Na los! Spucks aus! Du warst es! Gib´s zu!
Dinge, die man längst vergessen glaubte.
---Kniet euch hin und betet ein Vater unser!
Sie melden sich wieder, unaufhörlich und gnadenlos.
Jetzt geht´s los!
Ich lasse die Gedanken in meinem Kopf kreisen.
---Diese Scheiße mache ich nicht mehr länger mit!
Jeder dieser schwirrenden, schwindelerregenden Gedanken beginnt mit dem Internat. Das Internat, indem ich meine Jugend verbrachte. Allein von diesem Begriff aus entspinnt sich jeder weitere Gedanke und verzweigt sich zu meinem Erstaunen sogar in manch undenkbare Richtung. Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht. Der Grund ist wirklich und unbedeutend. Hierauf werden neue Muster gesponnen und verwebt. Die Einbildung allein tut dies.
Das Internat...
das Internat –
Das Internat –
das Internat –
Leben im Internat –
Eine Horrorvorstellung für die einen, das Ideal von Freiheit für die anderen. Für Uns nämlich, Wir, die wir Jahre lang von diesem Ideal überzeugt waren.
Wir, die wir überlebt haben. Der Begriff Internat weckt Assoziationen. Internierungslager, Gefängnis, ein Ort unberührt von der Zivilisation und deren Entwicklungen. Rückständigkeit, Strenge und Disziplin, militärischer Drill, ohne die Möglichkeit einer Horizonterweiterung.
Selten wird vom Internat gesprochen. Die Anstalt – so nennen die Wiestaler Eingeborenen selbst das Internatsgelände oberhalb der Stadt und verzichten dabei auf den vollständigen Ausdruck, der mit Irren beginnt. Andere, lieblichere, harmlosere Begriffe müssen her. Der Kasten – Damit können wir leben. Das klingt niedlich. Dazu stehen wir. Wir sind etwas besonderes. Natürlich sind wir eigenbrödlerisch und organisiert, gleichen in Wesen und Struktur einer Sektengemeinschaft. Keinen reinlassen! Keinen rauslassen! Eingekastelt eben. Und wenn einer kommt, verharren wir in unüberbrückbarem Misstrauen, wenn einer geht, wird er gnadenlos verachtet. Und das alles mitten in der ländlichen Pampa, mitten in Deutschland und doch am Ende, also da, wo die Straßen enden – am Arsch der Welt – Wiestal. Es gibt keinen Zaun, keine Mauern, dafür gibt es die scheinbar endlose ländliche Einöde darum herum.
---Nur Snake Plissken kann den Präsidenten da rausholen!
Die furchtbar dilettantisch geteerte und unbebaute Straße, die nach Wiestal führt, stellt eine Herausforderung für jedes Kraftfahrzeug dar.
Der Ort selbst – eine Kleinstadt, ein Provinznest, eine Oase der Glückseligen – oder doch die Hölle auf Erden? Kleinbürgertum und Ignoranz, Vereinsmeierei und Denkmalpflege treffen auf ein kulturell hochstehendes Institut, kirchlich verwaltet und geprägt, ein Bildungsbunker mit einem alles bestimmenden Schwergewicht:
dem hier ansässigen, weltberühmten Knabenchor. Durch das Internat abgeschottet von der Außenwelt, die Musikszene seit Jahrzehnten mitbestimmend und bereichernd, bekannt durch Funk und Fernsehen: Der Wiestaler Knabenchor.
So trifft der Mief des Kleinstadtnestes nicht nur auf ein geistiges, sondern auch auf ein musikalisches Trainigscamp, auf eine andere Welt, die einen eigenen Mikrokosmos mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Werten verbirgt. Eine Innenwelt, die sich nicht ausnehmen lässt wie eine Weihnachtsgans. Im Gedärm einer gut funktionierenden Verdauung trifft man auf Parasiten, bakterielle Erreger, Krebsgeschwüre, die die Organe bedrohen und langsam zersetzen:

Das Internat – die Pädagogen und Erzieher – gescheiterte Existenzen, die keinen Lehrerjob abbekommen haben. Es sind schlägernde Pädagogen, vom Alkohol zerfressene Individuen, es befinden sich auch solche unter ihnen, die von sich selber meinen, vom Alten Schrot und Korn zu sein, nicht oder wohl wissend, woher solche reaktionären Sprüche stammen. Andere besitzen eine unüberschaubar große Anzahl von Macken, einen sprachlichen Minimalismus, der sich in ständig inhaltsleeren Floskeln entlädt. Das sorgt für unendlichen Gesprächsstoff unter den Internatsbewohnern. Die Erzieher hingegen verkümmern nicht selten zur unfreiwillig-komischen Pädagogenexistenz.
---RudU!
Das läßt unglaublich penetrante Beschränktheit vermuten. ---Ganz klar!
Das Internat – Der Kasten, ein Ort, wo christliche Werte vermittelt werden sollen – von der Evangelischen Kirche getragen – Deren Pfarrer werden eingesetzt – Protestantische Big Brothers, Pädagogen für die Oberstufe – sie zocken mit den Schülern der Mittelstufe bis tief in die Nacht oder vergreifen sich an Jungs aus der Unterstufe – und sie sind verheiratet.
Pig Brothers!
Oder sie haben andere Probleme – existentielle Probleme – Eheprobleme. Oder sie kümmern sich nur um sich, lassen die Schüler machen, was sie wollen. Die Internatsleitung schaut zu – zu lange – die lange Leitung.
Das Internat – der Chor – ein weltberühmtes Ensemble von Rang – von Musikkritikern verehrt, von berühmten Musikern hoch geschätzt – die Proben – der Alltag – das Training – der Chef – ein schreiender Chorleiter – drei Takte in drei Stunden – ein fürsorglicher Chorleiter – angebrüllt werden.
Aufstehen! Vorsingen!
- Was soll das? - Raus! Nächster!
- Ist der heute wieder gut gelaunt!
- Dieser Scheiß-Sopran! Aufstehen! Vorsingen! Raus! Zm Ktzn!!! Diese drecksacksekelhaftwiderwärtige Erzgeneralscheiße im Tenor!
Die kreative Destruktion, so haben wir seine Sprüche genannt. Das Zischen durch die Zähne, das Spucken in die erste Sopranreihe, das Stressproben bis zur Unerträglichkeit und noch viel weiter! Derselbe Chorleiter einige Minuten später, er lacht und scherzt, danach spuckt er wieder Gift und Galle – Im Chor eigenen Prospekt steht Freundschaft durch Strenge, die Boulevardpresse witzelt und nennt ihn der Deutsche Derwisch. Er herrscht über seine Untergebenen, mal locker, mal cholerisch, er probt und dirigiert mit Hingabe, Leidenschaft und Egomanie.
Ganz aus dem Bauch heraus.
Und nach der Probe, zwischen den Proben, zwischen den Konzerten: Entspanntes Miteinander.
Ein Faszinosum für alle seelisch Unbelasteten, eine demütigende Qual für alle familiär Vorbelasteten.
Der Chorgesang, der hier wie eine geölte Maschinerie funktioniert, bestimmt das Leben im Internat. Wir sprechen von Montagsprobe, Dienstagsprobe und so weiter, später geben wir, ganz einfach ausgedrückt, Konzerte.
Menschen außerhalb dieses Systems habe ich es bereits anders formulieren hören. Hier werden extreme Methoden angewandt, um Kunst und Kultur unter die Menschen zu bringen. Manch einer spricht von Kinderarbeit, von der Pervertierung der Kunst, von der Zwiespältigkeit, die herbeigeführt wird durch eine umstrittene und fragwürdige Art Noten einzupauken, sie verweisen auf christliche Werte und können professionelle Arbeit an geistlicher Musik nicht mit religiösen Inhalten vereinbaren. Es entsteht etwas Künstliches, beinahe Unheimliches. Ein Monster. Von hier aus zieht der Chor, das erschaffene Frankensteinmonster in Form von uniformierten und gleichgeschalteten Knaben missionarisch durch die Lande, angeführt von Dr. Frankenstein, der seinen pathologischen Wahn als Krankheit nicht anerkennt, geschweige denn bemerkt.
---Messer im Rücken!
Sie fragen sich, ob Deutschland wirklich so ein Institut braucht, um im ganzen Land und über die Grenzen hinaus mental Eingeprügeltes für alle hörbar zu machen (welches zweifelsohne auf höchstem Niveau wiedergegeben wird).
Den Ewig Gestrigen muss klar werden, dass ein professionelles Niveau nur mit extremen Mitteln erreicht werden kann.
So die Befürworter des Elitechores und seines gnadenlosen Dirigenten. Endlose Diskussionen werden damit abgeblockt. Immer wieder wird dies gesagt, es wird zum Thema der Medien gemacht, ein jeder will sich wichtig machen, Neid und Missgunst ruinieren beinahe ein irgendwie doch bewährtes System und die unangenehm große Effektivität dieser Einrichtung, dieses Camps. Und das bis heute.
Dieses Camp ist die Anstalt – Der Kasten – Wir denken nicht darüber nach. Für uns sind es weitere Montags- und Dienstagsproben, gefolgt von Mittwochs-, Donnerstags- und Freitagsproben, die unseren Alltag bestimmen – Das Internat. Dann: Die Konzerte und Reisen – das Lachen, die Freude, die Kunst, der Stolz, die Gemeinschaft. Frankfurt, München, Berlin, Brasilien, Russland, Norwegen, Frankreich, Amerika. Die Bretter, die die Welt bedeuten.
Spirituelle Erfahrungen für alle!
Die Presse ist begeistert. Die Omis weinen. Standing Ovations! Und das alles zur höheren Ehre Gottes.
Das Internat – die Freunde – die Feinde, Streit und Freundschaft. Pubertät – Sehen und gesehen werden, vor allem unter der Dusche. Vierte, fünfte, sechste Klasse – Es gibt also noch mehr von meiner Sorte! Erste Annäherungen und Berührungen, erstes Kuscheln. Es bleibt bei harmlosen Kindereien. Siebte Klasse – das Zählen der Schamhaare. Man fühlt sich unterentwickelt. Blicke streifen jeden Körper, jedes Glied. Penisneid natürlich. Manche fühlen sich unvollkommen, obwohl sie vor Männlichkeit nur so strotzen. Sie haben Muskeln und sehen älter aus, als sie sind. Leider entwickelt sich ihr Gehirn nicht in der gleichen Geschwindigkeit.
Erste Identitätskrise. Ich frage mich: Bin ich schwul? Bin ich normal? Achte Klasse. Tag für Tag Wichsen auf dem Klo oder abends im Bett. Angst, entdeckt zu werden. Neunte Klasse. Nachmittags während der Studierzeit, heimlich und unbemerkt unter dem Schreibpult. Die Angst vor peinlichen Enthüllungen schwindet nach und nach. Wichsen in der Schule und auf den Chorreisen. Inzwischen ist es egal, ob es einer bemerkt. Zehnte Klasse. Sex mit dem Zimmergenossen, einem Freund. Doch, ich bin schwul! Ja, ich bin nicht normal! Erst anfassen, erst an die Grenzen und dann darüber hinausgehen. Keiner darf es erfahren, niemand darf es wissen. Heimlicher Sex am Nachmittag, auf Chorreisen, bei Gastfamilien und auf den Internatstoiletten. Die Gefahr vor dem Entdeckt werden läßt das Adrenalin hochschießen. Nervenkitzel. Das Spiel mit dem Feuer. Elfte Klasse. Ich kann nicht schwul sein, stelle ich mir beim Wichsen doch immer Mädchen vor! Gott sei Dank, ich bin doch normal...oder? Dann: Ich muss normal sein. Erster Geschlechtsverkehr, erste Beziehung, erste Enttäuschungen. Gott sei Dank – ganz normal!
Das Internat – die Schule – die staatliche Schule auf der anderen Straßenseite, außerhalb unseres Mikrokosmos – das notwendige Übel – zwei Kategorien gibt es von Anfang an: Stadtschüler und Internatsschüler – Internatsschüler sind verschrieen, vor allem bei den Lehrern. Internatsschüler sind verwöhnt, Klugscheißer, Wiederholer und Schulschwänzer! Zugegeben, sie sind auch kreativ und beteiligen sich aktiv an allen schulischen Veranstaltungen, alle sprechen von Doppelbelastung – Schule und Chor versuchen sich in Kooperation, es klappt aber meistens nicht – Doppelbödigkeit – Heuchelei und Pseudoakzeptanz – auf beiden Seiten. Eine Kooperation, von der gepredigt, mit der nach außen hin geworben, die aber nie spürbar wird – Lehrer, die den Chor hassen – Choristen, die die Lehrer hassen – Erzieher, die Schüler hassen, die die Schule hassen – Schüler, die Erzieher hassen, die den Chor hassen.
Das Internat – älter werden – erwachsen werden – Zwölfte und dreizehnte Klasse – Grenzerfahrungen machen: geheime Partys, endlose Besäufnisse, durchzechte Nächte, Drogen, heimlicher Sex mit einem Mädchen, manchmal auch mit der Freundin, oder mit der Freundin des Freundes – es drauf ankommen lassen! – AIDS haben doch nur Schwule und Afrikaner.
Erzieher, die das nicht interessiert, die nicht kontrollieren – Erzieher, die mit Schülern saufen – Erzieherinnen, die mit Schülern vögeln – Schüler, die auf die Gänge scheißen, die die Hausflure vollkotzen oder die Toiletten überlaufen lassen.
---Ein bisschen asozial muss es schon sein!
Schüler, die stinken, weil sie sich nie waschen, oder weil sie wochenlang das Gleiche anhaben, weil kein Erzieher darauf achtet, oder weil sie sich in die Hosen machen vor Angst. Sie machen auch ins Bett, und das bis zur Kollegstufe. Sie haben große Angst, als Bettnässer entlarvt zu werden. Angst davor, dass dies vielleicht sogar die große Liebe bemerken könnte. Noch schlimmer: Plötzlicher Besuch von Mutter. Angst vor der Schande, den peinlichen Momenten der Erkenntnis. Schnell das Bett frisch beziehen, alles Verdächtige wegräumen. Die zu geschimmelten Teetassen, die uralten, bereits mehrfach benutzten Kaffeefilter, der vergessene Topf mit Chili con carne, die stinkenden Strümpfe, die dreckigen Unterhosen, der vergessene BH, die Pornos, der leere Kasten Bier, die Schnapsflaschen, die übervollen Aschenbecher, die herumliegenden Kondome, die Schulverwarnungen, die versauten Schulaufgaben – alles muss weg! Reine Routine. Das Hoffen, das Zagen. Hoffentlich ist sie bald weg.
Aufatmen – sie geht! Durchatmen. Weitermachen!
Sie haben Angst vor den Lehrern, vor den Mitschülern, vor der eigenen Leistungsfähigkeit. Manche drehen durch und schießen mit einer Bohrmaschine imaginäre Hubschrauber ab. Oder sie setzen das Zimmer ihres Nachbarn unter Wasser. Oder sie werfen Geschirr im Speisesaal aus dem Fenster. Einfach so. Oder sie nageln Bretter vor die Tür eines Pädagogen.
Manche beginnen zu lügen und zu klauen: sie beklauen sich gegenseitig oder lassen in den Geschäften von Wiestal alles mögliche mitgehen. Es geht nicht um den Inhalt, nur um den Kitzel. Oder sie ritzen sich mit einem Messer in die Arme, verstümmeln sich. Oder sie sitzen tagtäglich in der Kneipe und trinken. Sie sind nicht mal sechzehn und bekommen Alkohol in dieser Kneipe. Deshalb gehen die Schüler da auch hin. Der Wirt muss ja an sein Geschäft denken.
Das Internat – zwei Seiten einer Medaille – allein sein, in Gemeinschaft sein – die Kreativität, Ideen, die Gemeinsamkeiten, das Träumen, das Hoffen, die Verzweiflung – mir wird schwindlig bei all diesen Gedanken. Wo sollte man anfangen? Der eingeschlagene Weg lässt Unheilvolles vermuten, Dunkles und Abgründiges.
Das Internat – Die Wiestaler Zeit – nicht nur eine Zeit, in der man sich, soweit man dort angemeldet ist und dem Chor angehört, eine bestimmte Dauer Teil dieses Systems nennen darf. Diejenigen, die dort über einen längeren Zeitraum gelebt haben, wissen genau, was es für sie bedeutet. Diese Zeit stellt den Mittelpunkt ihres Lebens dar und nicht nur das. Man darf sie nicht als zeitlichen oder gar unbegrenzten Ablauf von Dauer oder gefühlter Länge ansehen, diese Zeit muss man eher als einen dauerhaften Rauschzustand begreifen.
Sie alle – wir alle leben in einem Bild von Salvador Dali: Uhren schmelzen, Zeit hat keine Bedeutung. Alles scheint zu verschwimmen und keinen Sinn zu ergeben.
Wir sind nun hier und machen das Beste daraus. Manchmal auch nichts. Aber wir leben jede Sekunde, atmen und schmecken das Leben, Energie fließt in uns und wir spüren den Puls dieser Energie mit größter Intensität. Es ist einerseits ein künstlicher Zustand, der mit der Realität anderer Menschen nichts gemein hat, andererseits ist es auch ein extrem künstlerischer, individueller, ja beinahe herrlicher Zustand. Musikalisches Leben und Wirken, Wut und Ärger, Sensibilität, Freude und Ausgelassenheit, Selbstständigkeit und Egozentrik, geistiges und geistliches Leben. Jeder neue Gegensatz setzt wiederum Energie frei, die sich in schier unerschöpflicher Kreativität entlädt.
Dieser Zustand vereint in sich all die Dinge, die ich gerade noch aus meinem Unterbewusstsein hervorgekramt habe und verblasst nach und nach und immer schneller, je länger ich die einzelnen Puzzle-Teile zu einer geradlinigen Geschichte, zu einem fassbaren Universum voller realer Personen, Abläufe und Ereignisse eingeschlossen der unausweichlichen Chronologie zusammenfügen möchte.
Am Ende entstehen Anekdoten, nette Geschichten mit fröhlichen, leicht zu identifizierbaren Charakteren.
Für viele Menschen außerhalb dieses Systems, dieses Universums ist Wiestal lediglich ein theoretischer Begriff, ein unbedeutender Fleck auf der Landkarte.
Emotionale Verbindungen kann man getrost ausschließen. Während jeder zweite Deutsche Wiestal mit Wittelsbach, Bad Windsheim, Windsbach oder Wiesbaden verwechselt, denken wir an die Dinge, die uns alltäglich umgeben haben.
Wie zum Beispiel die Schiller – Linde am Fuße des Kastenberges, die so heißt, weil Schiller hier angeblich einmal hin gepinkelt hat. Wir denken an die alltägliche Frühandacht vor dem Frühstück, an steinhartes Brot, an die unnatürlich rot schimmernde Marmelade oder an portionierte Wurst.
Wir denken an die ungenießbaren Berner Rollen, an bröseligen Kartoffelbrei und an Szegediner Gulasch, ich habe beinahe den Geschmack von Kürbis Kompott im Mund, und – obgleich kaum zu glauben – das Wasser läuft mir darin zusammen!
Wir denken an Erzieher Damraus penetrante Diashows, mit denen er uns Schüler beeindrucken wollte, jedoch nie etwas anderes als ein müdes Gähnen erzeugen konnte. Sofort fallen einem auch die anderen ein, Erzieher und ihre Vorkriegs ähnlichen Erziehungsmethoden, wie sie regelmäßig Ohrfeigen verteilten und Psychoterror ausübten. Wir sehen vor uns das weitläufige Internatsgelände, seit Ende des Zweiten Weltkriegs unverändert geblieben.
Wir erinnern uns an die von Schülern selbst geführte und verantwortete Internatskneipe KlausurIn. Manch einer denkt an die vielen Erlebnisse auf den Reisen mit dem Knabenchor, an den lebensgefährlichen Zustand der alten Reisebusse, an die unzähligen Quartier- Eltern, die teilweise unsäglichen Unterkünfte und an die schlecht organisierten Tagesabläufe im In- und Ausland.
Ich beginne abzuschweifen.
Ich muss Ordnung in das Chaos bekommen. Eine Ordnung, die vielleicht andere Ex Komilitonen ebenso brauchen, wie ich. Ich weiß, ich bin nicht alleine. Wir alle – Ehemalige, Davongekommene, Überlebende dieser Extremsituation, dieses ganz besonderen Lebensabschnittes – denken so. Nehme ich an.
Gute Zeiten, schlechte Zeiten.
Soap-Figuren – Sonntag Nachmittags-Familienunterhaltung. Sollte ich nicht mehr wagen?
---Es wird viel passieren!
Ich öffne die Augen.
Was für ein Trip!
Ich war mir so sicher, nichts vergessen zu haben. Aber nun spüre ich die Leere in mir, eine Leere, die wieder gefüllt werden möchte.
Ein wenig oberflächlicher sollte diese Füllung aber schon sein.
Aber halt –
ich ziehe mich an dieser Stelle kurz zurück, werde mir alles durch den Kopf gehen lassen und dann niederschreiben, was unvermeidlich ist.